© Doro Tuch
Heile Welt © Doro Tuch
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Heile Welt

Marketingmannöver / Inszenierung

Hofmann&Lindholm entdecken eine Marktlücke und öffnen die Bühne für Werbezwecke. Es ist so einfach, wie es klingt: Unter dem Dach des Theaters begegnen sich offensive Dienstleister und potentielle Kunden. Warum sollte man ein so traditionsreiches Kommunikationsmedium wie das Theater marketingstrategisch ungenutzt lassen? Angesichts des sich stetig ausweitenden, nachfragedominierten Käufermarktes scheint es an der Zeit zu sein, die Absatz fördernden Möglichkeiten der Rampe auszuloten und die Illusions-, Präsenz- und Echtheitseffekte des Theaters kommerziell zu auszunutzen.

Am 19. Juni 2010 erscheint im Berliner Tagesspiegel und in anderen deutschen Zeitungen folgende Anzeige:

Wir gestalten einen Theaterabend für Ihre Werbezwecke. Berlin / Düsseldorf / Köln. Hofmann&Lindholm. kontakt@hofmannundlindholm.de.

In 'Heile Welt' stehen vier Berliner Unternehmer_innen - ein Alleinunterhalter, ein Versicherungsmakler, eine Raumpflegerin sowie ein Gastronom – beziehungsweise die Profile ihrer Dienstleitungen zur Disposition, denn sie werden auf der Bühne konstruiert, destruiert, neu- und weiterentwickelt, unmerklich verändert und optimiert. Den Dienstleister_innen stehen dabei vier Performer_innen zur Seite, die sie mit der Erwähnung (vermeintlicher) biografischer Details, durch Handlungen, Erzählungen, Interviewsituationen und Berichte von Tagesabläufen buchstäblich in Szene setzen – im Bühnenraum platzieren und ausstellen. Während in dem gut 90 minütigen Stück oberflächlich der Versuch unternommen wird, die absatzfördernden Möglichkeiten der Bühnenrampe auszuloten, befasst es sich hintergründig kritisch mit dem gegenwärtig hoch gehandelten Marktwert des Authentischen – in der Werbung, im öffentlichen Leben und dem avancierten zeitgenössischen Dokumentartheater.

Mit: Georgius Antonakopoulos, Andrea Boehm-Tettelbach, Robert Christott, Maria Dos Santos, Jörg Erfurth, Roland Görschen, Simon Mehlich, Lara Pietjou und Peter Wegner
Konzept, Text, Regie: Hannah Hofmann, Sven Lindholm
Produktionsassistenz: Ines Disselbrede
Mitarbeit: Jan Wagner, Andreas Langkamp
Ausstattung: Daniela Schramm
Licht: Thomas Schmidt

'Heile Welt' ist eine Koproduktion von Hofmann&Lindholm mit dem HAU (Berlin) und dem FFT (Düsseldorf). Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Mit freundlicher Unterstützung durch das Schauspiel Köln. Mit Dank an Thomas Emmert.

Termine
3. – 5. Juni 2011
Studiobühne (Köln)
27. November 2010
HAU (Berlin)
23. – 25. November 2010
HAU (Berlin)
4. – 5. November 2010
FFT (Düsseldorf)
23. – 24. September 2010
Uraufführung

HAU (Berlin)
Rezensionen
Choices, 30. Juni 2011
Kann der Laie sprechen?
Nach den Grundrechenarten von Investition und Rendite scheint das Ergebnis eindeutig: Die Putzfrau kann für viel Geld in einer Zeitung eine Anzeige schalten, die wahrscheinlich nur von wenigen gelesen wird. Oder sie stellt sich mehrere Abende auf die Bühne, macht jedes Mal Werbung für sich und wird dafür noch bezahlt. Vielleicht hat Maria Dos Santos ja so gerechnet, als sie sich entschieden hat, in Hofmann&Lindholms faszinierendem neuen Stück ‚Heile Welt’ mitzuspielen. Vier Freelancer, von der Putzfrau über den Alleinunterhalter, den Versicherungsmakler bis zum Gastwirt, stehen auf der Bühne. Abwechselnd treten sie für ihre ‚on stage promotion’ auf einen kleinen Teppich, quasi den Gebetsteppich der Selbständigkeit und der Zuschauer erfährt biographische Details aus ihrem Leben. Da ist zum Beispiel Herr Erfurth, von Beruf musikalischer Alleinunterhalter, helles Hemd, schwarze Jeans, der schon als Kind an der Orgel saß. Er hat über 700 Musiktitel parat und hält sich für einen unfehlbaren Massenpsychologen. Zugleich ist Herr Erfurth an diesem Abend aber auch ein Entmündigter, der nicht selbst sprechen darf, sondern über den gesprochen wird: Von dem Chronisten-Quartett Lara Pietjou, Andrea Boehm-Tettelbach, Roland Görschen und Robert Christott. Hatten Hofmann&Lindholm bisher ihre Experten des Alltags alleine auf die Bühne geschickt, so treten nun neben die alltäglichen Experten noch alltäglichere Experten. Das erinnert an den Satz der postkolonialen Theorie ‚Can the subaltern speak?’, der danach fragt, wie der Westen Subalterne über einen bevormundenden Modus der Repräsentanz zum Sprechen bringt. Analog konstruieren Hofmann&Lindholm ein Showkonzept, das in der Rollenverteilung den Begriff des Laien politisch deutet und Menschen als vermeintlich authentische Repräsentanten ihrer selbst ohne Sprache präsentiert. Gerade das Sprechen aber gilt im Westen als Ausdruck von Subjektivität − und als identitätsstiftend. Identität ist an diesem Abend aber allenfalls Spielmaterial. [...] Was bleibt, ist eine Projektionsmaschine, die dem Zuschauer den Gastwirt Georgius Antonakopoulos als Hobby-Archäologen und -Philosoph verkauft – in jedem Griechen lebt bekanntlich ein Platon und Alexis Sorbas. Dass in dieser ‚Heilen Welt’ Migranten putzen und kochen, die Deutschen für Sicherheit und Kunst sorgen, ist dabei eher eine böse Petitesse. Denn sarkastisch wird im zweiten Teil ein Bild von der Selbstsuggestion des geglückten Lebens gezeichnet. Selbständige sind schließlich notorisch glücklich. Doch die vier Werbeträger auf der Bühne sind allenfalls solitäre Sternschnuppen mit einem böse klischierten PR-Lebensschweif.
Hans-Christoph Zimmermann
Vortrag, 2011
Dramatische Prozessualität in a-dramatischen Theaterformen. Anmerkungen zu Hofmann&Lindholms „Heile Welt
Eine zur Zeit viel diskutierte Art post- oder a-dramatischen Theaters wendet sich dem sogenannten ‚Realen’ zu und gibt vor, mit dem ‚Repräsentationstheater’ zu brechen. Es wird hier oft gesagt, dass es darum ginge, ‚Wahrnehmungsverschiebungen’ hervorzubringen. Man könnte behaupten, Wahrnehmungsverschiebungen finden statt, wenn die Zuschauer zu einer anderen Wahrnehmung der Realität gelangen, indem sie beispielsweise mit unsichtbaren Vernetzungen ihrer gesellschaftlichen Aktivität konfrontiert werden, wenn etwa sozial ausgeschlossene, deklassierte Menschen auf die Bühne und zu Wort kommen. Dann sind jene Wahrnehmungsverschiebungen mit einer vorgegebenen politischen Absicht verbunden, die ihrerseits die Begriffe von Realität und Repräsentation unreflektiert voraussetzt. ‚Wahrnehmungsverschiebung’ kann jedoch auch eine viel komplexere Bedeutung haben, welche die Kategorien einer gegebenen Realität einerseits und einer als Verdoppelung oder Nachahmung gedachten Repräsentation andererseits in Frage stellt. Und zwar dann, wenn die in der Aufführung hervorgebrachte ästhetische Erfahrung den Prozess einer Subjektkonstitution in Gang setzt. (...) Eine genau in diese Richtung vorstoßende Theaterproduktion ist, wie ich zeigen möchte, Hofmann und Lindholms ‚Heile Welt’, uraufgeführt im September 2010 am HAU in Berlin. (...) Weil die Dienstleister echt sind und die Aufführung angeblich ihren Zwecken dienen soll, hat man es als Publikum anfänglich mit einer ready-made-Situation zu tun: die Betrachtung der Faktizität unter dem Gesichtspunkt der Dienstleistung. Es geht also um eine vom Publikum und den Akteuren geteilte Wirklichkeit, um ein Muster, in das alle Anwesenden eingeschrieben sind. Doch die von den Moderatoren gegebene strenge und schlichte Vorstellung erlaubt uns nicht nach diesem bekannten Muster zu funktionieren; sie erlaubt uns nicht das angebotene Versprechen je nach seiner Glaubwürdigkeit zu konsumieren. Die Darstellung, als Prozess der Gestaltung einer Faktizität, verbleibt sichtbar: Das organisierende Prinzip jeder Figur (ihr Motto, usw.) verschwindet nicht innerhalb dessen, was es gestaltet (die jeweilige Dienstleistung), sondern wird als solche vorgestellt. Anstatt von jenem Service-Angebot gereizt zu werden, werden wir vor eines unserer Realitätsmuster, vor eine von uns eingenommene Rolle gebracht. (...)
Der Umriss der Anfangssituation – die Figuren der Dienstleister und die Funktion des angeblichen Dienstangebots – werden allmählich der Möglichkeit, das zu sein, was sie schon sind, als Möglichkeit ausgeliefert. Was sie angeblich schon sind, ist das Gesuchte, das immer wieder verfehlt wird. Ihre vorausgesetzte ‚Echtheit’ wird nämlich dem Wahrscheinlichen und dem Möglichen eröffnet. Ihre vorgegebene reale Gestalt wird vor unseren Augen verformbar, die Festigkeit ihrer Kontur löst sich auf, sie wird langsam zu dem Punkt geführt, wo die Entscheidung ‚sich’ zu sein entspringen kann. Nicht nur, weil nacheinander mehrere Versionen von einem Lebenslauf oder widersprüchliche Beschreibungen der vor uns stehenden Dienstleister erzählt werden. Vielmehr verwirrt die Sprache, mit der von ihnen berichtet wird, in einem tiefer gehenden Sinn: Sie destabilisiert unsere Vorstellung der Realität, in der diese Figuren als solche bestehen können. Es ist die Sprache der Werbung, des Erfolgs, welche die Faktizität unter einem Ziel betrachtet, das uns Glück, Sicherheit, Versöhnung, Vertrauen usw. verspricht: als gegenwärtige Version des neuzeitlichen Subjekts, d.h. der Verwirklichung des Heils in der endlichen Welt. Die Sprache dieser Subjekt-Gestalt wird von den Mediatoren nicht nur ironisiert. Vielmehr wird sie in einem anderen Sinne vom Ziel abgelenkt, kommt sie ins Rutschen. [...] Dass diese ready-made-Situation, in der wir anfänglich zu sein glaubten, im Werden ist, dass sich etwas Unvorhergesehenes ereignen könnte, sogar etwas Bedrohliches, wird nicht zuletzt durch die akribische Intensität des Berichts angedeutet. [...] Die Abweichungen zwischen dem, was wir sehen, und wie das vorgestellt wird, das in-Bewegung-Setzen der jene Gestalten organisierenden Prinzipien und Mottos, die Vermischung der echten Situation mit vielen wahrscheinlichen, die alle gemeinsam unmöglich sind; oder auch ihre völlige Verfremdung durch das Unmögliche und Irreale, das jedoch aus der Logik der jeweiligen Mottos entspringt, erzeugen eine Handlung: die allmähliche konflikthafte Konfrontation der Echtheit der gegebenen Situation mit ihrer Darstellung. (...) Hofmann&Lindholms ‚Heile Welt’ erprobt, dem Programmheft zufolge, ‚das Schaufenster als moralische Anstalt’. Es bleibt eine offene, hier nicht erschöpfend behandelbare These, dass jene Probe, weniger a-dramatisch als dramatisch ist. Sie führt unsere ready-made-Gestalten an den Punkt zurück, wo ihre Gestaltung entspringen kann. Sie setzt den Prozess des Sich-selbst-Hervorbringens in Bewegung, indem sie die jene Gestalten konstituierende Darstellung destabilisiert, als Darstellung sichtbar macht und die Gestalten dem Möglichen aussetzt, was sie schon sind zu sein. Keine vorbildhafte Subjektkonstitution, sondern der dynamische, jede geronnene Gestalt auflösende Prozess, der mindestens seit Hegel das Drama kennzeichnet.

Marita Tatari
Berliner Morgenpost, 27. September 2010
'Heile Welt': Vier Berliner stehen im Rampenlicht.
Die letzte Bastion kommerzialisierungsfreier Unterhaltung ist gefallen."
Sasserath Munzinger, 09/2010
Es versprach, ein kautziger Feelgood-Dokumentartheaterabend zu werden – ein bisschen menscheln, ein bisschen sozialkritteln und zufrieden nach Hause gehen. Und tatsächlich: Wenn der Alleinunterhalter Herr Erfurth seinen Akkordeonkoffer langsam öffnet – erst das linke Schnappschloss, dann das rechte (...) und die Moderatoren seinen Werdegang beschreiben – vom Bankazubi zur One-Man-Band schlafloser Nächte – dann fällt man schnell in diesen wohligen Menschel-Mood: Super Typ! Schön, dass es das noch gibt. Als nächstes wird Herr Antonakopolus vorgestellt: Mitte Vierzig, 1,70 groß, kurzes, nach hinten gekämmtes schwarz-graues Haar, buschiger Schnauzbart, dicker Bauch, ockerfarbene Anzughose, in sich ruhend. Herr Antonakopolus kam als Kind von Kreta nach Deutschland. Herr Antonakopolus kam als 30-Jähriger von Thessaloniki nach Deutschland. Herr Antonakopolus betreibt ein griechisches Restaurant in Charlottenburg. In Moabit. Mit jedem Szenenwechsel werden die Biographien und Charaktere der Kleinunternehmer verändert, optimiert, neu konstruiert. Dabei freuten wir uns eben noch über echte Berliner Kleinunternehmer – die heile Welt zerbricht. Echtheitsbemühungen sind nicht nur paradox, sondern oft auch lächerlich. Im Spannungsfeld zwischen Echtheit und Inszenierung treffen Werbung und Gegenwartstheater aufeinander. Beide haben dasselbe Glaubwürdigkeitsproblem: Sie wollen echt sein, aber sie wollen auch etwas erzählen. Immer wieder werden in der Werbung echte oder echt wirkende Menschen gezeigt, um der Marke ein, nun ja, menschlicheres Gesicht zu geben. Dove hat es mit seiner Initiative für wahre Schönheit vorgemacht, Benetton hat mit der Abbildung von Schwarzen, Behinderten und Aids-Kranken viel Aufsehen erregt und auch aktuell menschelt es wieder gewaltig, zum Beispiel in der Telekommunikation (...) Zu Beginn der Vorstellung hat Alleinunterhalter Erfurth ebenfalls Visitenkarten im Publikum verteilt, wer Bedarf hat: www. alleinunterhalter-berlin.eu. Ob die Homepage echt ist und Herr Erfurth tatsächlich seinen Akkordeonkoffer auf Geburtstagen, Hochzeiten und Jubiläen aufklappt, bleibt allerdings fraglich. Denn nicht nur die widersprüchlichen Biografien der Kleinunternehmen werfen Zweifel auf: Wenn der Versicherungsmakler Herr Wegner vorgestellt wird, als einer, der jeden Tag um 5:28 Uhr aufsteht – zwei Minuten, bevor der Wecker klingelt – weil er die Regeln der Verlässlichkeit “im Schlaf” beherrsche und dann an die Rampe tritt, um einen passenden Slogan vorzutragen (“Ein guter Anfang. Wegner und Partner – die Versicherungsmakler”), dann sind das genau die Argumentations- und Rhetorikverbrechen, die jeden Trend in Richtung “Neue Ehrlichkeit in der Werbung”, wie ihn die W&V kürzlich beschrieben hat, lächerlich machen. Echtheit allein differenziert nicht. (...) stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit plakativ ehrlicher Werbung. Ehrlichkeit sei “ein sehr gutes Mittel zur Akzeptanz von Werbebotschaften”, behauptet Markt- und Konsumpsychologe Georg Felser im Interview mit der W&V. Nur: Erstens wird die Behauptung von Ehrlichkeit desto unglaubwürdiger, je bemühter sie vorgetragen wird. Zweitens besteht der glaubwürdigste Ehrlichkeitsbeleg immer noch darin, dass man seine Versprechen auch hält. Und drittens liefert Ehrlichkeit – Echtheit, Authentizität, Menschlichkeit oder wie man es auch nennen mag – allein noch keinen Beitrag zur Differenzierung. (...) Echtheit als Pose wird enttarnt. “Heile Welt” lässt keinen Zweifel daran, dass Echtheitskonstruktionen nicht nur in der Werbung fragwürdige Formen annehmen. “Sie bezeichnen sich als Architekt des Lebens?” fragt eine der Moderatoren den Versicherungsmakler Wegner. “Das habe ich nie gesagt”, antwortet der Mann, der für eine Werbekampagne ebenso hätte gecastet werden können, wie für eine Dokumentartheaterinszenierung, eine Nachmittagstalkshow oder eine Reportage. Nach der Vorstellung sitze ich mit meiner Begleitung in einem sehr authentisch aussehenden libanesischen Restaurant. Sie schlürft ihren Orient-Tee und fragt: “Glaubst du nicht, dass Herr Erfurth Alleinunterhalter ist?” Doch, das glaube ich schon.
Adam Domanski
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